In unserer neuen Folge von "Dreamers" spricht Jana Stahl mit Serpil Temiz Unvar und Ali Yıldırım über die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, und wie sie mit Schüler*innen über Rassismus spricht.
Hier finden Sie, in einer sich ständig erweiternden Ausstellung, die Fotos und Geschichten der Ausstellung "Woran das Herz hängt", die ursprünglich vom interkulturellen Frauenverein E.V.A. e.V. konzipiert wurde. Für mehr Informationen zu den Geschichten der geflüchteten Frauen, klicken Sie einfach auf das jeweilige Bild. Dort ist auch eine Audiodatei der Geschichte zu finden. Die vollständige Vertonung finden Sie weiter unten. Im Gästebuch können Sie eintragen, welchen Gegenstand Sie mitnehmen würden (unter Titel) und warum (unter Ihr Eintrag).
Dunya, 31 Jahre alt, aus Afghanistan
Dunya, 31 Jahre, aus Afghanistan
Als ich noch ein vierjähriges Mädchen war, verstarb meine Mutter. Meine Oma zog mich mit viel Liebe groß. Diese Ohrringe sind ein Geschenk von ihr. Ich war acht Jahre alt, als meine Oma mit mir in Kabul in die Stadt ging und ich mir diese Ohrringe aussuchen durfte… Dieser Moment ist eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Meine kindliche Freude war sehr groß, inmitten von Bomben und Krieg, zu Zeiten der Machtübernahme durch die Taliban. Meine Oma hatte es wieder geschafft, mich trotz allem glücklich zu machen. Wir Kinder konnten nicht mehr zur Schule gehen, da sie bombardiert wurde und die Lage allgemein zu gefährlich war. Als auch unsere Wohnung nicht mehr sicher war, entschied mein Vater Afghanistan zu verlassen. Meine geliebte Oma wollte aber nicht mitkommen. Sie sagte, sie wolle in ihrem eigenen Land sterben. Noch heute lebt sie in Afghanistan. Der Abschied von ihr schmerzte sehr. Wir flohen in den Iran.
Das Leben im Iran war für afghanische Flüchtlinge sehr schwer. Sie wurden sowohl im Alltag als auch in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt systematisch diskriminiert. Ich wurde oft wegen meiner Herkunft belächelt und als Mensch zweiter Klasse behandelt. Um dies nicht zu erleben, habe ich als junge Heranwachsende immer verheimlicht, dass ich Afghanin war. Genau wie allen afghanischen Flüchtlingen wurde auch mir der staatliche Bildungsweg versperrt. Man konnte sich nur auf teuren Privatschulen anmelden. Doch das konnte sich fast kein Flüchtling leisten. Das Leben insgesamt wurde für mich und meine Familie unerträglich, so dass wir uns entschlossen, nach Deutschland zu fliehen. Wenn ich meine Oma anrufe, schaffen wir es oftmals nicht, zu sprechen. Wir müssen beide sekundenlang weinen… Wir haben uns nun über 20 Jahre nicht mehr gesehen. Wenn meine Oma am Telefon sagt, sie wolle mich vor ihrem Tode noch einmal sehen, trifft mich das im Herzen. Ich versuche sie zu trösten und sage: Wer weiß Oma, vielleicht ist unsere Geschichte, wie die Geschichte der Propheten Yusuf (Josef) und seines Vater. Wir müssen uns noch gedulden und warten, bis wir zusammen kommen können. Bis dahin, habe ich eine Erinnerung an meine Oma und meine Kindheit mit ihr: Diese schönen Ohrringe…
Samina *, 30 Jahre alt, aus China
Samina*, 30 Jahre alt, aus China
Wir sind Uiguren und mussten unsere Heimat Xinjiang in China verlassen. Seit einem Monat sind meine beiden Kinder, mein Mann und ich im Ankunftszentrum in Heidelberg. Dieses Armkettchen hatte meine Mutter eigenhändig für meine Tochter hergestellt und es ihr vor zwei Jahren liebevoll ums Handgelenk gebunden. Ich bewahre es immer in meiner Handtasche auf.
Seit drei Jahren sind mein Vater und mein Bruder gegen ihren Willen in einem Umerziehungslager für Muslime eingesperrt. Genau wie eine Million andere…es ist herzzerreißend für uns… Alltägliche Menschenrechte werden uns verwehrt. Festsetzungen in Sammelcamps und Gefängnissen stehen an der Tagesordnung. Männer dürfen keinen Bart tragen, es ist verboten unseren Kindern uigurische oder muslimische Namen zu geben. Wir dürfen unsere religiösen und kulturellen Rituale nicht verrichten. Diese Dinge und vieles Mehr werden von der chinesischen Regierung als große Straftaten eingestuft und Menschen werden willkürlich verhaftet. Es bleibt kaum Raum zum Atmen… Wir mussten fliehen. Meine geliebte Mutter blieb zurück. Wir haben Angst, dass wegen uns meiner Mutter Verfolgung oder Verhaftung drohen könnte. Daher musste ich seit zwei Jahren den Kontakt zu ihr einstellen, aus Angst vor dem chinesischen Geheimdienst, aus Angst um sie… Sie macht sich bestimmt Sorgen und denkt jeden Tag an uns, wie wir auch an sie... Es ist so schmerzhaft, gar nicht zu wissen, wo der andere ist, ob er noch lebt, ob es ihm gut geht, ob er etwas braucht… Das Armkettchen erinnert uns an meine geliebte Mutter, die die Trennung von meinem Vater, von meinem Bruder und von uns erdulden muss…
* Name durch die Redaktion geändert
Marjam, 35 Jahre alt, aus Syrien
Marjam, 35 Jahre alt, aus Syrien
Diese Gebetskette ist mindestens 20 Jahre alt und gehörte meinem verstorbenen Vater. Meine Mutter hat sie mir als Erinnerung an meine Eltern mitgegeben, als wir uns voneinander verabschiedeten. Die Kette und den Koran habe ich auf meiner gesamten Reise bei mir getragen. Sie gaben mir Kraft und das Gefühl, dass sich mit ihnen die neuen Wege, die wir gehen mussten, für uns ebnen werden…Dieser Gedanke machte mir Mut… Mein Mann musste schon vorher alleine fliehen. Er wollte nämlich nicht morden. Weder in der Armee des Assad-Regimes kämpfen, noch bei den Rebellenmilizen. Er wollte kein Akteur in diesem unmenschlichen und undurchschaubaren Stellvertreterkrieg sein. Um nicht rekrutiert zu werden, war er gezwungen, vorher zu fliehen. Wir sollten nachkommen. Ich musste mich also mit meinen beiden Kleinkindern alleine auf die Flucht begeben… Wir waren gezwungen, mehrere Stunden über die Grenze zu Fuß zu marschieren. Ich war zwischenzeitlich völlig erschöpft. Ein fremder Mitflüchtender war sehr hilfsbereit. Er half mir, indem er eines meiner Kinder auf dem Rücken trug. Die Gebetskette meines geliebten Vaters ist in den vergangenen Jahren schon zweimal gerissen und die Perlen sind in alle Richtungen verstreut zu Boden gefallen… Genau wie meine Familie und wir Menschen, die ihre geliebte Heimat verlassen mussten... Mein Mann hatte beide Male, Perle für Perle, die Kette geduldig wieder zusammengetragen und repariert. Sie wird aber nie wieder so sein werden, wie damals, als mein lieber Vater sie in den Händen trug… Ich wünsche von ganzem Herzen, dass überall auf der Welt Kriege und Gewalt beendet werden und wir wieder in unsere Heimat zurückkehren können…
Iris, 49 Jahre alt, aus der ehemaligen DDR
Iris, 49 Jahre alt, aus der ehemaligen DDR
Ich wurde in Weißenfels in der DDR geboren. Meine Schwester und ich haben nahezu alle frühen Stationen der DDR-Sozialisation durchlaufen: Jungpioniere, Thälmann Pioniere, Freundschaftsrat. Auch für uns Schüler standen Demonstrationen gegen den „bösen Kapitalismus“ an der Tagesordnung. Ich wusste aber, dass sich meine Großeltern und Eltern seit dem Mauerbau in der DDR eingemauert und festgesetzt fühlten. Sie sprachen immer von einem „idealen Westen“, wo es ein besseres Leben gäbe. Ich war elf Jahre alt, als meine Eltern beschlossen, einen Ausreiseantrag bei der DDR-Regierung zu stellen. Dass ihnen eine Inhaftierung drohte, wussten sie. Doch der Wunsch, in den „freien und besseren Westen“ zu gelangen, war bei ihnen so groß, dass sie eine Gefängnisstrafe in Kauf nahmen. Sie stellten 1982 den Antrag. Eines Tages kamen wir Kinder von der Schule und sahen, wie acht zivilgekleidete Männer von der Staatssicherheit unser Haus durchsuchten, eine Art Inventar erstellten und dabei alles verwüsteten. Erst dann erklärte uns Oma, dass Mama und Papa sich für unabsehbare Zeit in Untersuchungshaft befanden. Ein Monat später wurden wir Schwestern in der Schule mitten im Unterricht aus unseren Klassen herausgeholt und in das Direktorat gebracht. Fragen gingen uns durch den Kopf wie: Dürfen wir später wieder zurück in unsere Klassen? Werden wir jetzt in ein Heim für schwererziehbare Kinder gesteckt? Das kam nämlich in der DDR bei Kindern vor, deren Eltern in Haft waren. Zwei Männer mit grauen Anzügen von der StaSi befragten uns zu unseren Eltern und Verwandten. Der Westen sei schlecht, sagten sie und wir hätten doch ein so gutes Leben hier, das wir schätzen sollten. Diese Willkür und Erniedrigung erschreckte mich… Wir bekamen keine Antworten von unserer Oma. Alles wurde todgeschwiegen. Wir konnten zwei Jahre unsere Eltern weder hören noch sehen. Nur meine Oma besuchte sie ein paar Mal im Gefängnis. Später erfuhren wir, dass meine Eltern nach zwei Jahren Haft von Deutschland sozusagen „freigekauft“ worden waren und nun im Westen auf uns warteten. Irgendwann kam endlich ein Telegramm zu unserer Familienzusammenführung. Darin stand, dass wir Kinder innerhalb von 24 Stunden die DDR zu verlassen hatten. Unsere Oma sollte uns bis zum Grenzübergang Probstzella begleiten. Wir fuhren abends im Dunkeln mit der Bahn los. Wir durften zu Dritt nur einen Koffer mitnehmen, der komplett durchgefilzt wurde. Jeder einzelne Gegenstand wurde schriftlich festgehalten. Wir erhielten eine sogenannte „Identitätsbescheinigung“, in der mich noch heute ein Punkt besonders zum Nachdenken anregt: „Staatsangehörigkeit: ohne“. Ich kann mich noch sehr gut an einen schmalen Durchgang erinnern, der uns in einen kalten, dunklen Raum führte. Plötzlich platzte es aus mir heraus: „Endlich im Westen!“ Meine Oma stieß mich ängstlich in die Seite. Das Warten in diesem kalten Übergangsraum wirkte auf mich wie zeitlos. Dort waren nur wenige Menschen, die auch warteten. Dann kam ein Zug. Dieser komplett leere Zug, der nur für unsre kleine Personengruppe fuhr, wirkte irgendwie irreal. Wir kamen in Bayern an. Die Grenzpolizei im Westen begrüßte uns sehr freundlich. Als ich meinen Vater sah, erschrak ich. Der große kräftige Mann war auf 60 kg abgemagert. Meine Mutter hatte noch ihre langen Haare, wirkte aber irgendwie auch verändert. Die Entfremdung zwischen meinen Eltern und mir war auch mit den Jahren nicht mehr aufzuholen. Obwohl ich ein Gymnasialniveau hatte, haben mich meine Eltern hier auf einer Hauptschule angemeldet. Ich war unterfordert und wurde von den Klassenkameraden ausgeschlossen. Begriffe wie „Ossi“, „StaSi Mitarbeiterin“, „Spion“ wurden mir an den Kopf geworfen. Selbst im Erwachsenenalter gab es mal im Nachbarkreis dumme Sprüche zu meiner DDR-Herkunft. Meine Identitätsbescheinigung ist immer in meinem Fotoalbum. Wenn ich sie anschaue, denke ich nur: Kein Mensch sollte „ohne Identität“ sein müssen. Es soll niemandem die eigene Identität von anderen abgesprochen werden! Andere sollen sich nicht anmaßen, über die Identität eines Menschen entscheiden zu wollen. Das sollte keinem Menschen passieren.“
Shyrete, 28 Jahre alt, aus Nordmazedonien
Shyrete, 28 Jahre alt, aus Nordmazedonien
Ich heiße Shyrete und komme aus Nordmazedonien. Seit sechs Monaten bin ich jetzt schon mit meiner Familie im Ankunftszentrum in Heidelberg. Dieses Taschentuch trage ich immer in meiner Handtasche. Es bedeutet mir sehr viel. Im Jahre 1990 hat es meine liebe Mutter mit ihren eigenen Händen durch ihre Häkelarbeit verschönert. Jede einzelne Masche birgt ihre Geduld, Stärke und Liebe… Meine Mutter schenkte es mir zum Abschied, als mein Mann, meine beiden kleinen Kinder und ich uns auf den Weg nach Deutschland machten. Ich war zu diesem Zeitpunkt im siebten Monat schwanger mit Zwillingen. Während der gesamten Busfahrt, die sich für mich wie eine Fahrt ins Ungewisse anfühlte, hielt ich das Tuch fest in meinen Händen. Wohin uns das Leben von nun an auch bringen mag, das Tuch werde ich immer bei mir haben…
Hatice*, 36 Jahre alt, aus der Türkei
Hatice*, 36 Jahre alt, aus der Türkei
Meine Tochter Zehra* ist wie ein Schutzengel, ein Segen Gottes für unsere Familie. Was ich damit meine und welche Rolle sie im Verlauf unserer Fluchtgeschichte spielte, möchte ich Ihnen erzählen: Mein Mann und ich waren Lehrer mit Herzblut und arbeiteten an einer staatlich anerkannten und gesellschaftlich hoch angesehenen Privatschule. Im Jahre 2014 bekamen wir unser drittes Kind. Nach dem Mutterschutz wollte ich wieder meiner geliebten Arbeit nachgehen und freute mich schon darauf. Doch es kam anders: Diesmal ungewollt, wurde ich wieder schwanger. Ich fühlte mich jetzt schon mit der neuen Situation überfordert. Als auch noch unsere Tochter mit dem Down-Syndrom geboren wurde, nahm dieses Gefühl zu. Viele Fragen gingen mir durch den Kopf: Werden wir diesem besonderen Kind gerecht werden? Werde ich irgendwann mal wieder als Lehrerin arbeiten können? Schweren Herzens kündigte ich meine Stelle an der Schule. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass das ein wichtiger Wendepunkt in unserem Leben sein sollte: Nach dem Putschversuch in der Türkei am 15. Juli 2016 wurden willkürlich per staatlichem Dekret zahlreiche Medienhäuser, Universitäten und Schulen geschlossen und zu einer „terroristischen Einrichtung“ deklariert. Der Grund: ihre Nähe zur Gülen-Bewegung. An unserer Schule verhafteten sie den Schulleiter und zahlreiche Kolleginnen und Kollegen. Sie kamen auf unabsehbare Zeit in Untersuchungshaft. Gegen meinen Mann war ebenfalls ein Haftbefehl erlassen worden, woraufhin er gezwungen wurde, das Land zu verlassen. Wäre meine Tochter nicht geboren worden, hätte ich nicht gekündigt und wäre vielleicht auch festgenommen worden. Dann hätten sie unsere Kinder in ein Waisenheim gesteckt, was oft vorkommt, wenn beide Eltern in Untersuchungshaft sind. Die Geburt unserer Tochter hatte sich als ein Segen für unsere gesamte Familie herausgestellt. Nachdem mein Mann nach Deutschland geflohen war, blieb ich also mit vier Kindern alleine zurück. Mehrmals führte die Polizei Razzien in unserer Wohnung durch und suchte meinen Mann. Mein Freundes- und Verwandtenkreis hatte aus Angst vor staatlicher Verfolgung den Kontakt zu mir abgebrochen. Ich verkaufte unser Auto und wir lebten von unseren letzten Ersparnissen. Unser normal bürgerliches Leben hatte sich ganz plötzlich zu einem schrecklichen Alptraum verwandelt. Ein Jahr später kam endlich die erfreuliche Nachricht zu unserer Familienzusammenführung. Doch wie sollte das funktionieren? Die türkische Regierung hatte willkürlich ein Ausreiseverbot verhängt und meinen Reisepass für ungültig erklärt. Was sollte ich nun machen? Ich ging zu allen zuständigen Behörden, doch ich fand keine Hilfe. Ich musste schnellstmöglich das Land verlassen. Wir beschlossen, die Kinder zuerst mit einem Bekannten zu meinem Mann nach Deutschland zu schicken. Den Abschied am Flughafen werde ich niemals vergessen. Meine beiden „Großen“ waren bemüht, tapfer zu bleiben, die beiden Kleinen schrien und weinten, als sie sahen, dass ich zurückblieb. Vor allem Zehras Weinen und Rufe nach mir klingen mir noch heute in den Ohren. Ich fühlte mich machtlos und wusste nicht, ob ich meine Kinder jemals wiedersehen würde. Dieser Schmerz ist unbeschreiblich… Ich war nun ganz alleine am Flughafen zurückgeblieben, nur meine braune Tasche an meinem Arm… Wir waren gezwungen über einen Schlepper einen gefälschten Pass für mich zu organisieren. Wieder war ich ganz alleine mit meiner braunen Tasche am Flughafen. Ich hatte große Angst, „aufzufliegen“, festgenommen zu werden und meine Kinder jahrelang nicht sehen zu können. Aber ich musste diesen Weg gehen. Es blieb uns als Familie keine andere Möglichkeit, um zusammenzukommen. Meine Kinder, vor allem Zehra, brauchten ihre Mutter bei sich… Ich hielt meine Tasche fest in den Händen und betete, dass ich bei der Passkontrolle durchkommen könnte… Schließlich schaffte ich es über Georgien nach Deutschland zu kommen… Meine Kinder, mein Mann und ich trafen uns an einem deutschen Flughafen wieder… wir umarmten uns minutenlang und weinten vor Glück…
*Name durch die Redaktion geändert
Isatou*, 34 Jahre alt, aus Gambia
Isatou*, 34 Jahre alt, aus Gambia
Ich musste im Jahre 2015 Gambia verlassen. Der ehemalige Präsident Yahya Jammeh beschuldigte willkürlich manche Frauen Hexen zu sein und zwang sie einen angeblich heilenden Kräutertrank zu trinken, der jedoch schwerwiegende gesundheitliche Folgen hatte. Jammeh war meiner Meinung nach geisteskrank und führte den Tod einer seiner Tanten auf Hexerei zurück. So begann eine Hexenjagd vor allem in den Dörfern. Meine Mutter und ich wurden eines Tages auf der Straße von selbsternannten Heilern und Soldaten angehalten. Sie sagten, sie seien im Auftrag des Präsidenten unterwegs. Sie bezichtigten uns der Hexerei. Wir verstanden überhaupt nicht, was sie von uns wollten… Genau wie zahlreiche andere betroffene Frauen, wurden wir abgeführt und eingesperrt. Wir mussten alle unsere Kleidungsstücke ausziehen. Wir wurden gezwungen, einen sogenannten „Zaubertrank“ zu trinken, der Hexen heilen würde. Wer sich weigerte, bekam kein sauberes Trinkwasser, kein Essen und wurde geschlagen… Es war eine schrecklich riechende, undefinierbare, trübe Flüssigkeit. Meine Mutter konnte dem Druck nicht länger standhalten und trank sie. Ich weigerte mich. So musste ich weitere drei Wochen unter schwersten Bedingungen im Gefängnis bleiben. Schließlich starb meine geliebte Mutter an den Nachwirkungen dieses unbekannten Getränkes. Nierenversagen. Nachdem ich aus der Haft freikam, wurde ich von der gesamten Dorfbevölkerung als Hexe verschrien und das soziale Leben war für mich unmöglich geworden. Schweren Herzens entschied ich mich, nach Europa zu fliehen. Ich musste mein damals dreijähriges Kind meiner Schwester anvertrauen und verließ Gambia. Später gelangte ich auf einem größeren Fischerboot eines Bekannten nach Italien. Ich war ungefähr eine Woche auf hoher See. Mein Körper war während der Fahrt bei mir, meine Gedanken, mein Herz jedoch bei meinem Kind. Der Abschiedsmoment ging mir nicht aus dem Kopf… Mein Sohn schrie und weinte, als ich ihn in die Arme meiner Schwester übergeben und gehen musste. Dieser Trennungsschmerz ist unbeschreiblich... Seit fünf Jahren bin ich jetzt schon in Deutschland und von ihm getrennt. Auf der Flucht lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Er ist auch Flüchtling. Wir haben jetzt einen gemeinsamen dreijährigen Sohn. Auf dem Bild ist die Kette meiner geliebten Mutter zu sehen. Nach ihrem Tode schenkte sie mir meine Schwester zum Abschied, als ich Gambia verlassen musste. Die kleine Hand, ist die Hand meines Sohnes hier in Deutschland. Seine Anwesenheit gibt mir große Kraft und Durchhaltevermögen… Mein Traum ist es, mein Kind aus Gambia endlich wiederzusehen, es zu mir zu holen, richtig Deutsch zu lernen und eine Ausbildung zur Köchin zu machen… Ich weiß nicht, ob dieser Traum in Erfüllung gehen wird…
*Name von der Redaktion geändert
Sherin, 24 Jahre alt, aus Syrien
Sherin, 24 Jahre alt, aus Syrien
Ich bin Kurdin und musste mit meiner Familie aus Afrin im Nordwesten Syriens fliehen. Zunächst schafften wir es, in die Türkei zu gelangen, wo ich meinen Mann kennenlernte, der kurdischer Aktivist war. Wir heirateten mit einer kleinen Zeremonie. Diese roten, traditionellen Kleidungsstücke trägt die Braut während ihrer sogenannten Hennafeier, bei der sie Abschied von ihrem Elternhaus nimmt. Für mich war meine Hennafeier viel mehr: Ich nahm nicht nur Abschied von meinem Elternhaus, sondern auch von meiner Vergangenheit, meiner Heimat, meinen Kindheitserinnerungen… Diese Kleidungsstücke bedeuten mir sehr viel und ich besitze sie noch heute... Sie erinnern mich an meine unbeschwerte Zeit in meinem Elternhaus, an meine kleine Hochzeitszeremonie, meine Hoffnungen für eine glückliche Zukunft und Ehe… Wir konnten in der Türkei nicht lange bleiben. Mein Mann hatte Probleme mit der Polizei und wurde gesucht, weil er Verbindungen zur kurdischen YPG hatte. Wir hatten inzwischen Zwillinge bekommen.
Nun mussten wir also mit zwei kleinen Säuglingen weiterziehen. Die Flucht war für mich also noch nicht beendet. Meine Mutter schenkte mir zum Abschied diese Kinderdecke, die Sie auf dem Bild sehen können. In diese Decke wickelte ich eines meiner Kinder ein und drückte es fest an mich, während dem schweren, eisig kalten Fußmarsch in den Grenzgebieten…Diese angstvollen Momente werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen können… Es ist eine schöne Tradition bei uns, manche Kleidungsstücke des Kindes aufzubewahren um sie später ihm und sogar den Enkelkindern weiterzugeben…Ich konnte leider nichts mitnehmen, bis auf diese Decke, die ich für meine Kinder aufbewahren werde. Sie erzählt unsere Fluchtgeschichte…“
Inga, 30 Jahre alt, aus Georgien
Inga, 30 Jahre alt, aus Georgien
Ich wurde in der vierten Generation einer von Ostanatolien nach Georgien geflüchteten jesidisch-kurdischen Familie in Tiflis geboren. Im Jahre 1992 ging mein Vater, der ein guter Schuhmacher war, auf eine Geschäftsreise nach Russland. Zu dieser Zeit wütete der Georgisch-Abchasische Krieg. Er kam nie wieder von dieser Reise zurück. Monate später wurde er tot in den Bergen aufgefunden. Sein Fall ist bis heute nicht aufgeklärt. Ich war 2 Jahre alt, als ich meinen Vater verlor. Da meine Mutter nun hart arbeiten musste, kümmerte sich meine Oma um mich und meinen jüngeren Bruder. Im Alter von 21 Jahren wollte meine Familie mich mit einem jesidischen Mann aus Belgien verheiraten, den ich noch nie gesehen hatte. Parallel zu den Planungen meiner Familie lernte ich meinen jetzigen Mann kennen und wir verliebten uns. Drei Tage vor der geplanten Verlobungsfeier, die meine Verwandtschaft organisiert hatte, „flohen“ mein Freund und ich zusammen zu seiner Familie. Mein jüngerer Bruder stellte sich zunächst sehr aggressiv dagegen, aber nach vielen kräftezehrenden Gesprächen und Diskussionen akzeptierte meine Familie meinen Entschluss. Ich heiratete meinen Freund und zog mit ihm zu seiner Familie ins Haus. Ich hatte große Hoffnungen an mein „neues“ Leben geknüpft, musste aber bald erkennen, dass ich vom Regen in die Traufe gekommen war. Während meine krebskranke Schwiegermutter im Sterben lag, litten mein Schwiegervater und mein Schwager unter Spielsucht, tranken viel Alkohol und waren gewalttätig zueinander. Mein Mann konnte diese Situation nicht länger ertragen. Nach einem Monat starb meine liebe Schwiegermutter und ich war nun die einzige Frau, die vergeblich versuchte, eine weitgehend normale Atmosphäre in der Familie zu schaffen. Unsere erste Tochter kam zur Welt. Als mein Mann auch noch Probleme mit der Polizei bekam, beschlossen wir, diese häusliche Gewaltspirale zu durchbrechen und das Land zu verlassen. Über Weißrussland kamen wir nach Polen. Dort wurden wir zunächst in einem schrecklichen Flüchtlingsheim mitten im Wald untergebracht. Von dort sollten wir mit Hilfe eines Schleppers nach Deutschland kommen. Wir gaben ihm unser letztes Geld und schlossen uns einer Gruppe von Flüchtlingen an. Wir waren insgesamt zehn Personen. Mitten in der Nacht wurden wir abgeholt. Jetzt bin ich schon 7 Jahre in Deutschland. Wir haben mittlerweile 4 Kinder, von denen drei mit Freude den Kindergarten besuchen. Noch ist unser Asylverfahren nicht abgeschlossen. Das Warten und Bangen um unsere Zukunft, vor allem um die unserer Kinder, geht weiter. Diese Ohrringe, den Ring und den rosafarbenen Schal habe ich aus Georgien mitgebracht. Meine geliebte Oma schenkte mir diese Ohrringe, die sie sich vor 58 Jahren gekauft und selbst einmal getragen hatte. Der Ring und der Schal sind Geschenke von meiner verstorbenen Schwiegermutter. Es ist eine jesidische Tradition, der Schwiegertochter beim ersten Betreten des Hauses der Schwiegereltern einen roten oder rosafarbenen Schal umzuhängen. Es ist ein Zeichen des Willkommenseins. Ich werde den Schal aufbewahren bis mein kleiner Sohn erwachsen ist und heiratet. Dann werde ich ihn an meine Schwiegertochter weitergeben.“
Rana*, 35 Jahre alt, aus Afghanistan
Rana*, 35 Jahre alt, aus Afghanistan
Seit ungefähr vier Jahren bin ich mit meinem Mann und meinen Kindern in Deutschland. Dieses Kinderkleid habe ich aus Kabul mitgebracht. Es erinnert mich an unser schönes, unbeschwertes Leben vor der Flucht. Meine älteste Tochter trug es zuletzt auf der Feier zur Geburt des Neffen meines Mannes. Es war ein herzliches Fest mit Familie und Verwandten, die uns als letzte schöne Erinnerung an unsere Heimat geblieben ist. Als junges Mädchen schloss ich die Grundschule in Afghanistan ab. Ich wollte unbedingt auf die weiterführende Schule gehen, mein Abitur machen und studieren. Doch meine Brüder waren dagegen und wollten dies verhindern. Meine Eltern und Schwester unterstützen mich und so ging ich heimlich weiter zur Schule. Es herrschen leider männerdominante, festgefahrene patriarchale Strukturen in der afghanischen Gesellschaft, zu der auch meine Brüder gehörten. Doch mit Hilfe eines anderen Mannes, der auch in dieser Gesellschaft lebte, schaffte ich mein Abitur: Der Rektor unserer Schule. Er unterstützte mich und alle anderen Mädchen, die ihren Schulabschluss anstrebten. Er wusste, dass ich heimlich zur Schule kam und tolerierte alle Fehlstunden. Später war auch mein Mann eine der wichtigsten Stützen in meinem Leben. Wir hatten beide studiert. Obwohl seine Brüder mich als berufstätige Frau verpönten, unterstützte mein Mann mich auch in meinem Beruf sehr. Wir hatten einen hohen Lebensstandard und es schien alles gut zu sein…, bis ich mich in der Öffentlichkeit zu Themen wie Frauen- und Kinderrechte, Taliban, Fanatismus und Korruptionsaffären von Regierungsmitgliedern kritisch äußerte. Ich bekam mehrere Anrufe mit schrecklichen Morddrohungen. Ich kann aber nicht genau sagen, welche Gruppierung sich durch meine Äußerungen angegriffen fühlte und uns bedrohte. Ich konnte nicht mehr schlafen und dachte, sie werden plötzlich auftauchen, in unserem Wohnzimmer, in unserem Schlafzimmer und werden mich töten… Trotz Polizeischutz wurde schließlich ein geliebtes Familienmitglied auf offener Straße ermordet. Das war schrecklich schmerzhaft für uns. Eine Woche nach diesem tragischen Fall kam erneut ein Anruf mit Morddrohungen. Wir wussten nun, dass keine Sicherheitsbehörde uns beschützen konnte. So fühlten wir uns gezwungen, gemeinsam mit unseren Kindern das Land zu verlassen. Wir mussten unser bisheriges Leben, also alles zurücklassen, was wir hatten: Unsre geliebten Verwandten und Freunde, unser Haus, unser Auto, kurz unsere Heimat. Mit Hilfe von Schleppern brachen wir auf eine schwierige Reise auf: Mal kamen wir mit einem Auto voran, mal auf einem Esel, mal zu Fuß… Zunächst gelangten wir in den Iran, dann in die Türkei und schließlich schafften wir es, nach Deutschland zu kommen. Angst und Ungewissheit waren unsere ständigen Begleiter. Wenn ich heute dieses Kleid anschaue, denke ich zum einen an alle Menschen und alles, was ich von Zuhause vermisse. Zum anderen denke ich daran, dass man leider nicht alles behalten kann im Leben. Es ist nicht leicht, seine gesamte Vergangenheit, sein Land zu verlassen, aber wenn man sein Leben und das seiner Kinder und Verwandten schützen möchte, muss man diesen schwierigen Schritt gehen. Bildung ist für mich und meinen Mann eine Herzensangelegenheit für alle unserer vier Kinder, aber ganz besonders unsere Töchter. Es sollen alle Menschen und alle Mädchen überall auf der Welt Bildung genießen dürfen, denn nur so, können sich Missstände verändern. Und genau das wünsche ich von ganzem Herzen.
*Name von der Redaktion geändert
Kajji, 46 Jahre alt, aus dem Irak
Kajji, 46 Jahre alt, aus dem Irak
Mein Mann und ich kommen aus dem Nordirak. Wir sind Jesiden und mussten unsere Heimat Sindschar verlassen. Dieser Ehering gehörte meiner Mutter. Sie war 16 Jahre alt, als mein Vater, der ein hoch angesehener Mann in unserem Dorf war, sich in sie verliebte. Eines Tages kam er auf seinem Pferd angeritten, zog sie auf das Pferd und ritt mit ihr davon. Es sei wirklich wie in einem Film gewesen. Sie heirateten, waren glücklich und bekamen zusammen neun Kinder. Ich bin ihr siebtes Kind. Weil mein Vater damals versäumt hatte, ihr einen Ehering zu schenken, sparte meine Mutter jahrelang das Geld zusammen, das sie von den Küchen-Einkäufen zur Seite legen konnte. Mit dem Geld kaufte sie sich dann diesen goldenen Ehering, der mittlerweile über 60 Jahre alt ist. Als die Terrormilizen des IS in unsere Heimat einmarschierten, mussten wir Jesiden unbeschreiblich große Qualen erleiden. Tausende Frauen und Kinder wurden vergewaltigt, versklavt und verschleppt. Tausende Menschen wurden getötet und in Massengräber geworfen. Die amerikanischen Bombardements besiegten den IS, machten aber auch Sindschar dem Erdboden gleich… Dann folgten die türkischen Luftangriffe… Zusammengefasst kann ich sagen: Sindschar lag gänzlich in Trümmern. Es war und ist kein Leben mehr möglich dort… Wir hatten unsere Heimat verloren und mussten fliehen… Ich verabschiedete mich von meiner geliebten Mutter, die heute über 85 Jahre alt ist. Obwohl meine acht Geschwister und ich meiner Mutter das Leben oft schwermachten, liebte sie uns alle sehr und versuchte uns allen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Beim Abschied sah sie, dass ich meinen Ehering nicht anhatte. Sie fragte mich, wo er denn sei. Ich erklärte ihr, dass ich ihn verkaufen musste, weil er an einer Stelle gebrochen war. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog sie ihren Ring aus, für den sie jahrelang gespart hatte und steckte ihn mir an den Finger. Meine Tochter, sagte sie, du wirst jetzt auf eine lange und schwere Reise in fremde Länder gehen. Nimm diesen Ring bitte mit, als finanzielle Absicherung und vor allen Dingen als eine Erinnerung an mich… Wir haben uns umarmt und geweint… Wann würden wir uns wohl wiedersehen? Jeden Tag schaue ich auf ihren Ring und denke an sie…“
Vara*, 40 Jahre alt, aus Syrien
Vara*, 40 Jahre alt, aus Syrien
Im Jahre 2017 mussten wir vor dem Bürgerkrieg und vor allem aufgrund der Qual und Unterdrückung durch die IS-Milizen unsere Heimat Deir ez-Zor in Syrien verlassen. Wir sind eine gläubige, muslimisch-syrische Familie, die ihre religiösen Rituale von Herzen verrichtete und ein frommes, ausgeglichenes Leben führte. Dann gewann die IS in unserer Stadt die Oberhand und begann mit Gewalt zahlreiche Repressalien einzuführen: Sie zwangen muslimische Frauen dazu, von nun an nur noch in schwarzer Vollverschleierung herumzulaufen. Farbige Kopftücher und andere Kleidungsstücke waren von nun an verboten. Es wurde strafbar, Fernsehen zu schauen. Selbst Abbildungen und Fotographien zum Beispiel auf Medikamentenschachteln wurden untersagt. Kinder durften nicht mehr zur Schule. Eines Tages liefen mein Mann und meine Tochter auf der Straße, als sie von IS Milizen angehalten wurden. Meine Tochter trug an diesem Tag ein gelbes Kopftuch. Weil sie keine schwarze Kleidung trug wurde ihr willkürlich eine Strafe von 60 Peitschenhieben verhängt. Mein Mann, also ihr Vater, der sie so habe herumlaufen lassen, musste diese Strafe an seiner Tochter selbst vollziehen… Das war körperliche und psychische Folter…Es war für meine Tochter, meinen Mann und uns alle einer der schlimmsten Tage in unserem Leben. Wir haben vier Kinder. Zwei Mädchen und zwei Jungen. Weil wir auf keinen Fall wollten, dass unsere Jungen damals im Alter von 12 und 18 Jahren von der IS zwangsrekrutiert wurden, schickten wir sie alleine auf die Flucht nach Europa… ich machte mir große Sorgen um sie, aber wir wollten auf gar keinen Fall, dass sie von diesen Tyrannen entführt und für ihre Machtzwecke benutzt werden sollten. Mein Bruder, der sich gegen die IS gestellt hatte, wurde von ihnen enthauptet… Später mussten wir fliehen. Ich konnte nicht viel mitnehmen, nur einen kleinen Rucksack. Ich legte manche Kleidungsstücke raus, um Platz für meinen Koran zu schaffen, den man auf dem Bild sehen kann. Sehen Sie, in diesem Vers steht „Es gibt keinen Zwang im Glauben(…)“. Das ist eine Angelegenheit zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer. Diese Miliz nennt sich „Islamischer Staat“, aber nichts ist muslimisch, an dem, was sie dort und in der Welt anrichten… Möge Gott die Menschheit vor solchen und allen anderen Gewalttätern und Terroristen beschützen…“
*Name von der Redaktion geändert
Mehmet Ali, 40 Jahre alt, aus der Türkei
Mehmet Ali, 40 Jahre alt, aus der Türkei
Im Frühjahr 2015 nahm die Polizei meine Frau im Rahmen von Ermittlungen bei einer Razzia fest. Sie verbrachte 64 Tage im Gefängnis in Sincan. „Grund“ der Verhaftung: Der Besuch einer Privatschule eines unserer Kinder, die Behandlung meiner Frau in einem Privatkrankenhaus und der Besitz eines Girokontos auf einer Bank, die früher staatlich anerkannt war und nun als „terrorverdächtige Einrichtung“ eingestuft wurde. Meine Frau wurde nach ihrer Entlassung aus der Haft von ihrem Dienst als Beamtin suspendiert. Die Lage verschärfte sich nach dem Putschversuch im Juli 2016. Willkürliche Verhaftungen standen an der Tagesordnung. Ich wurde ebenfalls von meiner Arbeit als Beamter suspendiert. Als auch gegen mich Ermittlungen eingeleitet wurden, musste ich mich acht Monate lang im Haus eines Freundes verstecken. In der Zwischenzeit kam die Polizei fast täglich zu meiner Familie und fragte nach mir. Um meine Familie zu schützen, beschloss ich nach Deutschland zu fliehen, Asyl zu beantragen und meine Familie nachzuholen. Als jedoch alle Wege für eine Familienzusammenführung aus der Türkei versperrt wurden, entschloss sich meine Frau drei Monate später ebenfalls ins Ausland zu fliehen. Sie und die Kinder versuchten es zuerst über das Mittelmeer und dann über den Grenzfluss Mariza, der zwischen der Türkei und Griechenland liegt. Innerhalb von 25 Tagen unternahm sie fünf Versuche. Jedes Mal schwebten sie in großer Lebensgefahr, was mir hier das Herz zerriss. Schließlich gelang ihnen die Flucht über den Grenzfluss Mariza nach Griechenland. Völlig durchnässt und frierend mussten sie stundenlang in eisiger Kälte zu Fuß gehen… In Athen vergingen nun sechseinhalb Monate und wir warteten auf die Familienzusammenführung. Während dieser Zeit musste sie alleine mit unseren drei Kindern acht Mal umziehen, weil die Vermieter vor Ort ihre Wohnungen nur für kurze Zeit und für viel Geld an Flüchtlinge vermieteten. Am Tag des achten Umzugs schrieb sie mir eine Nachricht von ihrem Handy. Sie fühle sich körperlich nicht wohl: Stress, Überforderung, Ausschläge am ganzen Körper, Herzrhythmusstörungen, Taubheitsgefühl in den Gliedern. Ihre letzte SMS an mich war, dass sie ihre komplette linke Körperhälfte nicht mehr spüre. Ich rief von hier aus überall an und leitete Hilfe ein… Leider war ich 1.600 km entfernt von meiner Familie, ich konnte nicht zu ihnen, meine Hände waren gebunden… Eine Freundin, die gerade in diesem Moment meine Frau besuchte, berichtete mir später, dass Esma mit letzter Kraft aus der Wohnung kroch und Folgendes zu ihr sagte: „Ich hatte große Angst davor, dass mir vor den Augen der Kinder etwas passiert. Sie hätten doch eine Heidenangst bekommen. Jetzt bist du hier. Ich weiß, dass du dich um meine Kinder kümmern wirst.“ Sie wurde mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht. „Sag ihm, dass ich ihn liebe“, seien ihre letzten Worte gewesen… Esma hatte zunächst eine Lähmung und danach einen Schlaganfall erlitten. Sie verstarb in der gleichen Nacht in einem Krankenhaus in Athen. Die deutschen Behörden ermöglichten es mir, sofort zu meiner Familie nach Athen zu reisen. Dafür bin ich sehr dankbar. Nach fast einem Jahr Trennung, sollten wir uns also auf diese Weise wiedersehen. Es zerriss mir das Herz, meine geliebte Frau so wiederzusehen… Ihr Leichnam wurde zurück in die Türkei zu ihren Eltern gebracht und dort beigesetzt… Meine Kinder und ich konnten nicht einmal bei ihrer Beisetzung dabei sein… Ich kann diesen Schmerz nicht in Worte fassen… Nun war ich alleine mit meinen drei Kindern in Athen, die ich dann gleich mit nach Deutschland nehmen konnte. Meine Frau war ein toller und lebensfroher Mensch. Eine starke Persönlichkeit, eine Kämpferin… Ihren zweiten Universitätsabschluss schaffte sie als Mutter von drei Kindern. Die regionale Presse wurde damals auf sie aufmerksam und schrieb: „Mutter, Beamtin und Jahrgangsbeste zugleich.“ Eines ihrer Träume war es immer schon gewesen, ein weiteres Studium irgendwann an einer Universität in Europa anzutreten. Wenn sie heute noch leben würde, hätte sie bestimmt Jura studiert, um sich für die Rechte von Unterdrückten und Verfolgten in der Welt einzusetzen… Da bin ich mir ganz sicher…
"Halte durch Zeynep..."
"Halte durch Zeynep, wir haben es bald geschafft!"
Zeynep ist heute 12 Jahre alt und leidet an infantiler Zerebralparese. Aufgrund einer Lähmung des Unterkörpers, die bei ihrer Geburt auftrat, kann Zeynep nur sehr erschwert und nur mit Unterstützung laufen. Da ihre Eltern aus politischen Gründen verfolgt wurden, beschlossen sie schweren Herzens, im April 2017 über den Fluss Mariza nach Europa zu fliehen. Die Schleuser akzeptierten jedoch keine Überquerung des Flusses mit einem Rollstuhl, somit blieb Zeyneps täglicher Begleiter am Ufer zurück. Ängstlich stieg die Familie in das instabile Schlauchboot. Genau dann, als das sichere Ufer in erreichbarer Nähe zu sein schien, verfing sich das Boot in einem Ast und zerplatzte. Mit letzten Kräften gelang es der Familie, sich ans Ufer zu hieven. Danach begann die zweite kräftezehrende Phase der Flucht. Ausgelaugt und hungrig, marschierte die Familie auf türkischem und griechischem Boden eine lange Strecke von insgesamt 12 Kilometern. Laufen ist für Zeynep eines der schwersten Dinge im Leben. Trotzdem lief sie immer weiter, tapfer und voller Hoffnung auf ein neues Leben in Freiheit und Sicherheit. Stunden vergingen, aber Zeynep ging stets weiter, ohne sich zu beklagen. Wenn ihre Kräfte schwanden und völlige Erschöpfung drohte, ruhte sie sich auf dem Schoß ihrer Eltern aus.
„Halte durch Zeynep, wir haben es bald geschafft“, sagten ihre Eltern liebevoll. Furcht war ihr ständiger Begleiter, nicht „nur“ vor dem Tod. Es war vor allem die Angst, vom türkischen Staat entdeckt und wieder zurückgebracht zu werden. Jederzeit hätte die Flucht ein schlimmes Ende finden können. Doch nach dem stundenlangen und beschwerlichen Fußmarsch lockte ein Leuchten in der Ferne. Es waren die Lichter eines griechischen Dorfes. Tatsächlich fanden sie in diesem Dorf eine vorübergehende Obhut. Eine hilfsbereite, griechische Bäckersfrau brachte der Familie täglich frische Kekse. Nach vielen weiteren Etappen gelang es der Familie schließlich, in Europa Fuß zu fassen. Zeynep lebt jetzt mit ihren Eltern in Belgien und wird medizinisch versorgt. Sie wurde mehrmals operiert, mit Botox therapiert und wird an einer Sonderschule beschult. Sie lernt eine neue Sprache und hat Freunde. Zeyneps rote Beinprothesen und Brille werden in der Ausstellung gezeigt. Sie sind stumme Zeugen einer schwierigen Fluchtgeschichte eines tapferen Mädchens.
Das Meer der Tränen
Das Meer der Tränen
Am 28. Juli 2018 begaben sich 16 türkische Staatsbürger auf die Flucht aus der Türkei. Sie hatten vielleicht unterschiedliche Fluchtgründe, aber ein gemeinsames Ziel: Ein Leben in Sicherheit ohne staatliche Verfolgung und gesellschaftliche Diskriminierung. Familie Yeni war in dieser Nacht unter den Geflüchteten: Gülfem (29 Jahre), ihr Mann Gökhan (31 Jahre), ihr Sohn Burhan (2 Jahre) und ihre Tochter Nurbanu (8 Monate). Die Schleuser versicherten ihnen, sie auf einem sicheren Passagierboot mit Rettungswesten an Bord über die Ägäis auf die griechische Insel Lesbos zu bringen. Doch es kam anders. Um Mitternacht kam kein solides Passagierboot wie versprochen, sondern ein kleines Motorboot, das für maximal 5 Personen bestimmt war. Die Schleuser zwangen die Gruppe von 16 Personen, einschließlich Kinder, zügig in das 5-Mann-Boot einzusteigen. Den Geflüchteten blieb nichts anderes übrig, als den Anweisungen des Schleppers zu folgen. Mehrmals fragten die Familien nach den versprochenen Rettungswesten, die der Schlepper aber nicht für alle Bootsinsassen herausgab. Als das kleine Boot auslief, hielt es dem Gewicht der vielen Menschen nicht Stand. Es sickerte schnell Wasser hinein. Die Passagiere wollten umkehren, doch der Schlepper reagierte nicht auf ihre Aussagen. Alle gerieten in Panik, hielten sich aneinander fest. Es war stockdunkel. Plötzlich kenterte das Boot und alle Insassen fielen ins Wasser. Sie versuchten sich an dem Boot festzuhalten, um so mit letzter Kraft über Wasser zu bleiben. Alle weinten, beteten zu Gott und schrien in Todesangst laut um Hilfe. Familie Yeni konnte noch für eine Weile im Wasser zusammenbleiben. Zwar weinte Gülfem, versuchte aber zugleich stark zu bleiben. Sie fragte ihren Mann, was sie nun machen sollten. Er wusste selbst nicht weiter, doch bemühte er sich, hoffnungsvoll zu wirken. Er sagte, dass alles wieder gut werde. Durch das ständige Paddeln wurden nach einer gewissen Zeit seine Arme sehr schwer, seine Kräfte schwanden allmählich. Mit erschöpften Augen schaute er seine Frau und Kinder an, als wollte er sich ein letztes Mal von ihnen verabschieden. Gülfem konnte im letzten Moment ihren zweijährigen Sohn ihrem Mann abnehmen und musste mit ansehen, wie die Ägäis ihn verschlang. Voller Entsetzen fand sich Gülfem alleine mit ihren beiden Kindern um ihren Hals im eiskalten Wasser. Das Ufer war in der Ferne, soweit konnte sie nicht schwimmen. Auch ihre Kräfte schwanden und sie war nicht länger in der Lage, ihre Kinder über Wasser zu halten. Sie musste zusehen, wie ihre Kinder aufhörten zu atmen. Ihr Lebenspartner und ihre beiden Kinder fanden vor ihren Augen den Tod. Der Gedanke zu überleben, um die Leichname ihrer Liebsten nicht zu verlieren und ihnen eine menschenwürdige Bestattung zu ermöglichen, war der Gedanke, der ihr Kraft gab, um am Leben festzuhalten. Einige Zeit später kam ein Rettungsboot, das die neun Überlebenden rettete. Es waren sechs Menschen gestorben, darunter drei Kleinkinder, eine junge Frau wurde vermisst und nicht gefunden. Gülfem hatte überlebt, aber in einem einzigen Augenblick ihre geliebten Kinder und ihren geliebten Mann verloren. Auch andere Mitflüchtende hatten ihre Familienmitglieder oder Partner verloren und trauerten. Wie alle Überlebenden wurde auch Gülfem festgenommen und verhört. Manche Beamten gingen sogar soweit, dass sie sie beschuldigten, den Tod ihrer Kinder verursacht zu haben. Gülfem wurde zu 10 Jahren und 6 Monaten auf Bewährung verurteilt. Sie ist immer noch in der Türkei und absolviert derzeit ihr zweites Studium. Sie wünscht sich von ganzem Herzen, dass diese menschenunwürdige „Hexenjagd“ in ihrem Land endet und sie sich für Gerechtigkeit und eine unabhängige Justiz einsetzen kann. Das erste Bild zeigt Gülfem mit ihrer Familie in glücklichen Tagen. Auf dem zweiten Bild sind die Gräber ihrer Kinder und ihres Mannes zu sehen.
"Woran das Herz hängt" als Hörerlebnis
Gesprochen von Tala Al-Deen
Konzept der Ausstellung
Menschen, die aus verschiedenen Gründen ihre Heimatländer verlassen mussten und nach Deutschland geflüchtet sind, werden – auch in den Meldungen der Medien – oft unter dem Aspekt der Belastung (Stichworte wie „Flüchtlingskrise“, „Grenzen der Aufnahmefähigkeit“) wahrgenommen. Die Ausstellung soll verdeutlichen, dass jeder einzelne Mensch, der zu uns gekommen ist, eine persönliche Geschichte hat, die wir nachvollziehen können, wenn wir uns darum bemühen. Es werden Fotografien von Gegenständen gezeigt, die Frauen auf der Flucht aus ihrem Heimatland mitgebracht haben und die sie während ihrer schwierigen Reise immer bei sich trugen. Zu sehen sind auch Gegenstände, die von Frauen und Kindern in Gefängnissen hergestellt oder genutzt wurden.
Die Ausstellung wurde vom interkulturellen Frauenverein E.V.A. e.V. konzipiert. Das IZ hat die Ausstellung, die ursprünglich zu den Wochen gegen Rassismus im Foyer des Heidelberger Rathauses zu sehen war, digitalisiert und vertont. Die Geschichten der geflüchteten Frauen werden von der Heidelberger Schauspielerin Tala Al-Deen gelesen.
Woran mein Herz hängt - Gästebuch
Wenn ich heute mein Land verlassen müsste, würde ich folgenden geliebten Gegenstand mitnehmen: